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„Corona ist ein Spiegel der Globalisierung und der durch sie verursachten Ungleichheiten“

campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ / Teil 4: Interview mit dem Sozial- und Kulturanthropologen Hansjörg Dilger von der Freien Universität

03.04.2020

Wie eine Gesellschaft auf die Corona-Krise reagiert: Für den vierten Teil unserer Serie haben wir mit dem Sozial- und Kulturanthropologen Hansjörg Dilger gesprochen.

Wie eine Gesellschaft auf die Corona-Krise reagiert: Für den vierten Teil unserer Serie haben wir mit dem Sozial- und Kulturanthropologen Hansjörg Dilger gesprochen.
Bildquelle: shutterstock.com/khaleddesigner

Was verändert sich durch die Corona-Pandemie? Welche Folgen hat sie für das Leben jedes Einzelnen, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur? Im aktuellen Interview der campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ erläutert der Sozial- und Kulturanthropologe Hansjörg Dilger, was die Länder des Globalen Nordens vom Globalen Süden lernen können und wie ungleich sie auf die Pandemie vorbereitet sind. Daran, wie ethische und humanitäre Prinzipien in der Krise gelebt würden innergesellschaftlich wie global , müsse sich die Weltgemeinschaft künftig messen lassen, sagt der Medizinethnologe.

Herr Professor Dilger, wie sind wir in Deutschland auf eine Krise, wie sie durch die Corona-Pandemie entstanden ist, vorbereitet? Oder anders gefragt: Wie reagiert eine Gesellschaft wie unsere, die bisher kaum Naturkatastrophen kennt, die Freiheit, Wohlstand und kulturell-zivile Errungenschaften vielfach als selbstverständlich hinzunehmen scheint, auf eine solche Situation?

„In der Ethnologie spricht man oft davon, dass die Zukunft der Globalisierung – mit all ihren Schattenseiten – im Globalen Süden bereits gelebt wird“, sagt Hansjörg Dilger.

„In der Ethnologie spricht man oft davon, dass die Zukunft der Globalisierung – mit all ihren Schattenseiten – im Globalen Süden bereits gelebt wird“, sagt Hansjörg Dilger.
Bildquelle: Marisa Maza

Vor wenigen Wochen wäre eine Situation wie die jetzige in Deutschland kaum vorstellbar gewesen. Expertinnen und Experten haben zwar immer wieder vor einer globalen Pandemie gewarnt. Aber SARS, Ebola oder H5N1 („Vogelgrippe“) und H1N1 („Schweinegrippe“) blieben hierzulande Krankheiten „der anderen“ im Globalen Süden. Bei Corona merken wir, dass der Globale Norden auf diese Lage nicht vorbereitet ist. Unsere Gesellschaft ist in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit verletzbar geworden, die sie realistisch nicht für möglich gehalten hat.

Welche Faktoren entscheiden überhaupt darüber, wie eine Gesellschaft auf eine Krise reagiert?

Entscheidend ist, welche Vorerfahrungen einzelne Länder und Gesellschaften mit vergleichbaren epidemischen Krisen in der jüngeren Vergangenheit gemacht haben, welche Regierungsformen dort vorherrschen, und welche Ressourcen sie für die Krisenbekämpfung haben. In Asien ging in den Jahren 2002/03 die SARS-Epidemie ebenfalls von China aus und wurde mit teils autoritären Maßnahmen bekämpft. Die befürchteten gesellschaftlichen und globalen Folgen blieben damals längerfristig aus – aber trotzdem gab es in der Region ein Bewusstsein, dass sich solche Epidemien wiederholen können; es wurden regionale Kooperationen etabliert.

Die aktuelle Pandemie erfasste dann sehr schnell auch Europa, und vor allem in Italien und Spanien stiegen die Fallzahlen rasch an. Zugleich haben die europäischen Austeritätspolitiken in diesen Ländern nach der Finanzkrise 2008/09 zu drastischen Einschnitten in der öffentlichen Finanzierung von Gesundheitssystemen und einer immer höheren Belastung der Bürgerinnen und Bürger geführt. Hier wurden – nach anfänglichem Zögern – teils drastische Maßnahmen implementiert und jetzt wie in Spanien durch die Polizei und Drohnenüberwachung forciert.

Im Vergleich hierzu sah sich Deutschland besser vorbereitet – obgleich auch bei uns Privatisierungen und staatliche Kürzungen die Pflege und Gesundheitsversorgung getroffen haben.

Wie beurteilen Sie die politischen und gesellschaftlichen Diskurse, die hierzulande gerade geführt werden?

Auffallend an der aktuellen Diskussion ist, dass sowohl der gesundheitspolitische als auch der gesellschaftskritische Diskurs stark nach innen gerichtet sind. Mit Blick auf die Einschränkung von Grundfreiheiten und die Situation der gefährdetsten sozialen Gruppen ist dies völlig richtig.

Gleichzeitig sollten wir viel stärker über internationale und globale Solidarität – und die Aufrechterhaltung humanitärer Prinzipien – diskutieren. Dies betrifft den Zusammenhalt innerhalb Europas ebenso wie die unerträgliche Situation von Geflüchteten an den Außengrenzen der EU; in afrikanischen Ländern wird die Corona-Pandemie die sozial Schwächsten in einem Maße treffen, das die globale Wirtschaftsordnung mit zu verantworten hat.

Dass schließlich der Schutz von Leben – bislang! – meist noch so eindeutig über den der Ökonomie gestellt wird, ist absolut richtig. Gleichzeitig sind ökonomische Prioritäten schon immer zum Nachteil der sozial Schwächsten ausgefallen. Auch hier brauchen wir eine kritische Diskussion über die Folgen des Spätkapitalismus im Kontext der Globalisierung.

Kann die deutsche Gesellschaft etwas von Ländern lernen, die immer wieder unter Naturkatastrophen oder Epidemien leiden? In der Regel sieht sich ja Deutschland in der Rolle, Schwellenländer zu unterstützen – könnte das nun umgekehrt sein?

Aus meiner Forschung im östlichen Afrika weiß ich, dass Gesellschaften dort oft flexibler mit Krisen umgehen. Im Zuge neoliberaler Strukturreformen haben sie sich daran gewöhnt, dass der Staat diese Krisen nicht für sie löst – oder dass autoritäre Maßnahmen vor allem die Schwächsten hart treffen. Auch im Kontext von HIV/Aids beispielsweise kam es zu familiären und gesellschaftlichen Zusammenbrüchen; Menschen wurden während ihrer Krankheit oder auch im Sterben alleine gelassen.

Gleichzeitig haben sich aber viele kleine Unterstützungsinitiativen entwickelt – auf Gemeindeebene, in den Kirchen, in NGOs. Auch im Kontext von Corona werden die Menschen dort die Krise nur durch Solidarität untereinander bewältigen; die Maßnahmen der Regierungen sind oft nicht ausreichend und treffen die sozial Schwächsten besonders hart.

Gerade von dieser Notwendigkeit zur Solidarisierung im Alltag könnte auch Deutschland etwas lernen – und wir sehen ja aktuell bereits, dass sich auch hier zahlreiche Unterstützungsinitiativen sowohl im individuellen als auch gesamtgesellschaftlichen Bereich formieren.

Dass der Globale Norden darüber hinaus auch von Modellen und Erfahrungen zur Pandemiebekämpfung im Globalen Süden lernen kann, steht für mich außer Frage. In der Ethnologie spricht man oft davon, dass die Zukunft der Globalisierung – mit all ihren Schattenseiten – im Globalen Süden bereits gelebt wird.

Eine Krise wie Corona kann daher auch zu einer Chance werden: Dafür, dass sich im Bereich der Globalen Gesundheit – und der Politik insgesamt – Kooperationen ergeben, die über die bis heute stark durch postkoloniale Hierarchien des „Helfens“ und der Abhängigkeit geprägte Zusammenarbeit hinausgehen. Dies heißt explizit nicht, dass alle Maßnahmen aus den Ländern mit mehr Erfahrung eins zu eins auf die Situation in Deutschland angewandt werden sollen oder können.

Können Sie aus Ihrer Arbeit Empfehlungen für die aktuelle Situation ableiten?

In Deutschland wird diese Krise nachhaltige Spuren hinterlassen. Neben den individuellen und ökonomischen Effekten wird dies das Bewusstsein einschließen, dass die negativen Effekte der Globalisierung uns in bislang ungekanntem Maße direkt treffen können. Ich hoffe, dass sich aus diesem Bewusstsein ein längerfristiges Umdenken in Bezug auf die aktuelle Gesellschafts- und Weltordnung ergibt.

Wie kann das aussehen?

Corona ist ein Spiegel der Globalisierung und der durch sie verursachen Ungleichheiten. Die Konsequenzen aus der Corona-Pandemie können nicht darin bestehen, dass einzelne Gehälter leicht angepasst werden und wir darüber hinaus für kostengünstiges Arbeiten im Home Office flexibilisiert sind. Bereiche wie der Klimaschutz, die Einhegung neoliberalen Wirtschaftens – oder auch eine nachhaltige Reform des Gesundheitssystems – sind Themen, die am besten schon jetzt diskutiert werden.

Generell halte ich Solidarität als Wert in der aktuellen Situation für fundamental. Epidemien treffen kurz- und mittelfristig immer die sozial Schwächsten: Im Fall von Corona sind dies innergesellschaftlich – neben den medizinisch definierten Risikogruppen – Obdachlose, Geflüchtete und Menschen in strukturell benachteiligten Lebenslagen; international und global sind dies Länder und Gesellschaften, die die negativen Folgen der ökonomischen Globalisierung am stärksten getroffen haben.

Das Aufrechterhalten – und tatsächliche Leben – ethischer und humanitärer Prinzipien in dieser Krisensituation wird uns als Gesellschaft und Weltgemeinschaft auf lange Zeit definieren.

Die Fragen stellte Christine Boldt

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