Festvortrag von Carola Stern anlässlich der Immatrikulationsfeier zum Sommersemester 2003, FU Berlin
Festvortrag von Carola Stern anlässlich der Immatrikulationsfeier zum Sommersemester 2003
Nachdem der Präsident (Herr Professor Gaehtgens) die Erstsemester beglückwünschte, begann Frau Stern:
Herzlichen Glückwunsch auch von mir,
ich habe mir gestern Abend noch einmal überlegt, wann ich eigentlich zum letzten Mal in der FU gewesen bin. Da ist mir eingefallen, das war im Januar 1959, zum Anti-Atomkongress der Studenten, mit Helmut Schmidt, Ulrike Meinhoff und Probst Krüger. Und nun freue ich mich natürlich ganz besonders, heute über diese Einladung zu Ihnen zu sprechen, denn es lässt sich nicht verheimlichen, ich bin eine verkrachte Studentin der FU. Und da fühlt man sich natürlich besonders geehrt, wenn man hier einen Festvortrag halten kann. Nun bin ich überzeugt, Sie schaffen das alles, Sie kommen hier durch, aber wenn es Ihnen so gehen sollte wie mir, dann rate ich Ihnen, schlagen Sie sich durch, besorgen Sie sich von irgendeiner Landesregierung einen Professorentitel für besondere kulturelle Leistung und kommen Sie nach 50 Jahren hierher und halten Sie den Festvortrag für Ihre Enkelkinder.
Und jetzt zu meinem Thema, viel zu umfangreich für diesen
Vortrag.
Ich muss mich auf einige Gesichtspunkte beschränken. Ich
wollte es endlich wissen: zu Hause im Journalismus, Hauptfach
Politik, geübt im Bücherschreiben, Hauptfach Biographien,
engagiert im PEN, also erfahren im Umgang mit Poeten und
Politikern, beschäftigt mich seit langem schon die Frage: Was
kann der Schriftsteller bewirken? Die Welt verändern? Staat?
Gesellschaft? Oder wenigstens das Individuum?
Nicht einmal das, meint Reich-Ranicki. Haben die Tragödien und
Historien Shakespeares auch nur einen einzigen Mord verhindert,
fragt er in seinen Memoiren, hat Lessings Nathan den im 18.
Jahrhundert ständig wachsenden Antisemitismus zumindest
eingeschränkt, machte Goethes Iphigenie die Menschen humaner,
wurde wenigstens ein einziges Individuum nach der Lektüre
seiner Gedichte edel, hilfreich und gut? Das sind eindrucksvolle
und zugleich ernüchternde Fragen. Wie könnte man den
Kritiker widerlegen?
In Erinnerung an einen Junitag des Jahres 1880 in Moskau hielt
Dostojewski zu Ehren Puschkins eine große Rede. Am Ende
riefen ihm junge Leute zu: "Sie haben uns besser gemacht durch Ihre
Bücher!" Das sollen Bücher auch, forderte Zola.
Ich habe weiter gesucht nach handfesten Beispielen für die
pädagogische Wirkung einzelner Autoren. Hier das Ergebnis:
Charles Dickens hat in seinen Romanen ein anschauliches Bild der
erschreckenden sozialen Zustände der englischen Gesellschaft
des 19. Jahrhunderts gezeichnet, und so schließlich dazu
beigetragen, die Verhältnisse in den britischen
Armenhäusern, Spitälern, Gefängnissen und Schulen zu
verbessern. Ein Erfolg, wie ihn nur selten ein Schriftsteller
erreicht.
Ein zweites Beispiel aus dem 19. Jahrhundert: So problematisch uns
heute die Darstellung der Schwarzen in Harriet Beecher-Stowes Onkel
Tom's Hütte auch erscheint, die ungewöhnlich erfolgreiche
Familienstory hat viele Menschen aufgeschreckt und zu
Anhängern der Sklavenbefreiung in Amerika gemacht. "Dies also
ist die kleine Dame, die den großen Krieg, den Amerikanischen
Bürgerkrieg, herbeigeführt hat", soll Abraham Lincoln
geäußert haben, als er die Autorin traf.
Zu den bedeutendsten holländischen Prosawerken dieser Zeit
gehört der Roman Max Havelaar des Niederländers Edward
Dekker, veröffentlicht unter dem Pseudonym Multatuli, in dem
auf die durch die Kolonialpolitik verursachten unerträglichen
Zustände der einheimischen Bevölkerung in
Niederländisch-Indien hingewiesen wird. "Das Buch fuhr wie ein
Blitz hernieder, schlug ein und setzte Flammen", so ein Kritiker.
"Ein Schaudern ging durch das Land", so ein Parlamentarier.
Reformen wurden eingeleitet. Die Aufdeckung von Übeln
übernimmt im 20. Jahrhundert oft der Journalist, nicht der
Literat, die Zeitung, nicht das Buch.
Doch Solschenizyns Wirkung - er durchbrach in der Sowjetzeit die
Mauer des Schweigens und berichtete von der Welt des Schreckens in
den sowjetischen Lagern - kann man gar nicht
überschätzen.
Ausnahmen, ich weiß. Aber mich auf die Nobelpreisrede von
Günter Grass beziehend frage auch ich: Wenn Bücher im
allgemeinen so gar keine politische Wirkung haben, was macht sie
und ihre Verfasser dann derart gefährlich, dass zuweilen Staat
und Kirche, nicht zuletzt Politbüros, so rabiat gegen sie
vorzugehen pflegen? Weil der Autor bezweifelt, dass es nur eine
einzige Wahrheit gibt? Weil er die Vergangenheit nicht ruhen lassen
will? Weil Leichen ausgegraben, verbotene Zimmer betreten, heilige
Kühe geschlachtet werden? Weil der Verfasser sich nicht mit
den Siegern gemein macht, sondern mit Verlierern? Weil die Sieger
ahnen, dass Literatur unter bestimmten Umständen eine
größere Sprengkraft enthält als eine ganze
Wagenladung Dynamit?
Nun höre ich aber immer wieder, der Schriftsteller
verstände nicht mehr von Politik als andere. Niemand habe ihn
Kraft seines Berufes mit einem politischen Mandat betraut. Was also
berechtigt ihn, sich zum selbsternannten Sprecher anderer
aufzuwerfen, ja womöglich der Nation? Die Sprache, wird er
sagen. Er ist der Sprache mächtiger als andere. Ausgestattet
mit diesem besonderen Handwerkszeug, reagiert er unter
Umständen besonders kritisch und empfindlich auf
Verlautbarungen und Reden jener, die politische Macht ausüben.
Herrschaftskritik als Sprachkritik. Darin sah Max Frisch die
Aufgabe des Schriftstellers. Wir können das Arsenal der Waffe
nicht aus der Welt schreiben, äußerte er in den
fünfziger Jahren, aber wir können das Arsenal der
Phrasen, die man zur Kriegsführung braucht, durcheinander
bringen und so auf Ideologien und Feindbilder zersetzend wirken.
Zum Schreiben gehört Instinkt, Sensibilität, ein gutes
Auge. Solche Eigenschaften könnten den Schriftsteller zum
Seismographen befähigen. Sie lassen ihn zuweilen früher
als andere wahrnehmen, was verborgen und geleugnet wird. Die
gesellschaftlichen Zustände messen an dem, was er über
die menschlichen Wünsche und Vorstellungen, Leiden und
Sehnsüchte, Hoffnungen und Schmerzen weiß.
Abstinenz oder Einmischung, auch die Poeten sind zerstritten. Die
einen berufen sich auf Goethe. Der schrieb an Heinrich Luden:
"Warum sollte ich mich um politische Angelegenheiten kümmern?
Ich hasse alle Pfuscherei, vor allem in politischen
Angelegenheiten." Und eben die kommen dabei heraus, wenn der
Dichter mitreden wolle. Er vertraue denen, die die Macht
ausüben. Dem widersprachen damals Ludwig Börne und andere
Autoren des jungen Deutschland. Die Pfuscher waren für sie die
Mächtigen, und sie, die Dichter, fühlten sich berufen,
Wahrheiten und Werte hochzuhalten und den Pfuschern dreinzureden.
Welche dieser Meinungen hat sich hierzulande durchgesetzt? Wie
gestaltete sich das Verhältnis zwischen Geist und Macht im 20.
Jahrhundert?
Trunken vor Begeisterung stürmte die literarische Elite im
wilhelminischen Deutschland 1914 in den ersten Weltkrieg. Und wer
zu alt oder schwach zum Kämpfen war, schrieb wenigstens
Kriegsgesänge. Alle jubelten dem Kriegsgott zu.
Schriftsteller, die sich bis dahin kaum öffentlich zu Wort
gemeldet und sich nie mit Politik beschäftigt hatten,
fühlten sich berufen auf ihre Weise nun lauthals für
Kaiser und Reich zu fechten. Der Krieg wurde verklärt zur
Prüfung der Nation, in der sich alle menschlichen Tugenden,
Schönheit und Kraft entfalten und die Deutschen über ihre
Feinde siegen würden. Mit den Jahren wich der Rausch.
Bemerkenswerte Bildung und bedeutende Begabung, ein großer
Name in der Literatur schützen nicht vor Verblendung und
Verstrickung. Immer wieder werden wir konfrontiert mit dem
politischen Unverstand von Dichtern, deren Werke wir lieben, die
uns viel bedeuten. Man denke nur an Knut Hamsun oder Ezra Pound.
Das Reich und seine Dichter, das Jahr 1914 liefert ein
anschauliches Beispiel dafür, wohin es führen kann, wenn
die Distanz zwischen Geist und Macht aufgegeben wird.
Anders 1933. Als Hitler an die Macht kam, ging fast die gesamte
deutsche Literatur ins Exil. Von Toller bis Tucholsky, von Anna
Seghers bis Remarque, nicht zuletzt die Brüder Mann. Von
jenen, die in Deutschland blieben, und nicht wie Mühsam und
Ossietzky sogleich verhaftet wurden, reagierten einige auf den
Hitler-Staat mit einem hörbar tapferen Nein. Ricarda Huch zum
Beispiel. Doch selbst noch nach der Bücherverbrennung am 10.
Mai vor 70 Jahren gelobten 88 deutsche Schriftsteller Adolf Hitler
treueste Gefolgschaft. Auch Gerhard Hauptmann, Ina Seidel und
andere stimmten Hitler zu. Ihre Begründungen unterschieden
sich, aber ähnlich wie zum Beispiel der Expressionist
Gottfried Benn, bis 1933 stets ein Gegner engagierter Kunst,
begrüßten auch bekannte national-konservative Autoren
den NS-Staat zunächst als Beginn des Zeitalters des wahren
Preußentums, als nationale Erhebung und grundlegenden
Neuanfang. Auch auf ihren Enthusiasmus folgte allerdings
Ernüchterung, der Rückzug in die innere Emigration, in
stillen, in sich gekehrten Widerstand, und als solcher oft kaum
noch erkennbar.
Doch zurückblickend auf zwei Weltkriege hat mich zugleich
beeindruckt sowie überrascht, dass Literatur selbst in
bewegten Zeiten auch ganz unabhängig vom politischen Geschehen
entsteht und sich behauptet. James Joyce schrieb sein Ulysses
während des ersten Weltkrieges. Thomas Mann beendete Lotte in
Weimar 1939 im amerikanischen Exil und Bert Brecht, den so vehement
politisch Engagierten, beschäftigte während des zweiten
Weltkrieges im skandinavischen Exil sein Volksstück über
Herrn Puntila und seinen Knecht. Verwundert registrierte er, dass
solche Kriege sein können und dass immer noch literarische
Arbeiten angefertigt werden: "Der Puntila geht mich fast nichts an,
der Krieg alles. Über Puntila kann ich alles schreiben,
über den Krieg nichts. Es ist interessant, wie weit Literatur
als Praxis wegverlegt ist von den Zentren der alles entscheidenden
Geschehnisse." Und es ist interessant, das will ich hier
hinzufügen, wie das ganz unzeitgemäße und auch das
ganz unpolitische, künstlerische Werk plötzlich ungeahnte
politische Wirkung zeigen kann. 1968 beispielsweise wird ein
Träumender, wie Brecht ihn nannte, ein seit langem Begrabener
im Prager Frühling eine geistige Revolution auslösen:
Franz Kafka.
Geist und Macht, Schriftsteller und Politik - ein
größerer Gegensatz in der Gestaltung dieses
Verhältnisses ist kaum vorstellbar, wenn man auf das
Deutschland der fünfziger Jahre blickt. Gemeinhin
Gleichgültigkeit, zuweilen Unmut kennzeichnen das
Verhältnis der Adenauer-Regierungen und der bundesdeutschen
Öffentlichkeit zu den Schriftstellern.
Im Ulbricht-Staat hingegen wurde ihnen, so offiziell, "die
moralische Erziehung der Nation" übertragen. Schon in den
ersten Nachkriegsjahren luden SED und Besatzungsmacht emigrierte
Schriftsteller, besonders die bekannten, zur Rückkehr in die
Sowjetische Besatzungszone ein, gewährten ihnen Privilegien
und übertrugen ihnen verantwortliche Positionen im kulturellen
Leben.
In der Bundesrepublik hingegen galten Emigranten als Menschen, die
auf sicheren Logenplätzen weit entfernt vom Schuss dem
Kriegsleiden nur zugesehen hatten. Sie wurden entweder
überhaupt nicht mehr verlegt oder mussten lange darauf warten.
Zum Tod von Heinrich Mann kam weder aus dem offiziellen Bonn noch
aus seiner Geburtsstadt Lübeck ein Beileidstelegramm nach
Kalifornien. Adenauers Außenminister Heinrich von Brentano
verstieg sich, Bert Brecht mit Horst Wessel zu vergleichen.
Anerkennend und fördernd ging die SED auch auf jene jungen
Autoren zu, die gerade erst zu schreiben begonnen hatten - auf
Schriftsteller wie Christa Wolf und Hermann Kant, wie Erich
Löst und Heiner Müller. Die zweite Generation der
DDR-Autoren, geprägt durch ihre Kindheit und Jugend im
NS-Staat, zunächst verstört, dann erschüttert
über das Ausmaß der Verbrechen, beschämt und
schuldbewusst, begriff dankbar die ihnen zur Versöhnung
ausgestreckte Hand und tauschte - halb bewusst, halb unbewusst -
die Ideologie, mit der sie aufgewachsen war, gegen die angebotene
neue ein. Wie ihre älteren, zurückgekehrten Kollegen
hielten auch sie die DDR für den besseren deutschen Staat, und
es überzeugte sie, dass eine gerechte Gesellschaftsordnung nur
im Sozialismus möglich sei. Auch ehrte sie ihr
außergewöhnliches öffentliches Prestige. So fiel es
leichter, über die rigorosen stalinistischen Praktiken in der
DDR der fünfziger Jahre, die Tätigkeit der strengen
literarischen Zensoren hinwegzusehen und sie als Begleiterscheinung
eines schwierigen Neuanfangs zu bagatellisieren. Und zeugte nicht
der Einspruch, und sei es auch nur gegen einen Ausdruck, eine
Zeile, wie ernst der Dichter und sein Werk genommen, welche
Verantwortung ihm übertragen wurde? Zunächst häufig
unkritische Mitarbeit von Schriftstellern am Ulbricht-Staat,
dagegen engagierte Kritik und nachhaltiger Protest ihrer
westdeutschen Kollegen in der Adenauer-Ära, dieser Gegensatz
gehört zu den Kennzeichen der deutschen Teilung in den
fünfziger Jahren. Junge bundesdeutsche Autoren, die sich in
der Gruppe 47 zusammengeschlossen und einen radikalen politischen
Neuanfang erwartet hatten, bestürzte die schnell einsetzende
Restauration. Insbesondere ein von Politikern geförderter
Verdrängungsmechanismus, der jede Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit verhinderte, und nicht nur Mitläufern im
NS-Staat, sondern auch Tätern wieder den Einzug in
Regierungsämter ermöglichte.
Und dann die Wiederbewaffnung, die die Hoffnung auf eine
Wiedervereinigung zerstörte und die Furcht vor einem
Wiederaufleben des Militarismus aufkommen ließ. Und so finden
denn auch die Darstellung des Lebens im NS-Staat, mit der das
Schweigen darüber durchbrochen werden soll, sowie Erschrecken
über die Gegenwart, Warnung und Widerspruch in den
Erzählungen und Romanen von Autoren wie Wolfgang Köppen,
Günter Grass, Siegfried Lenz und Heinrich Böll ihre
nachhaltigste Ausdrucksform. Diese Autoren waren überzeugt,
dass Literatur vor dem Nicht-mehr-sehen-wollen, vor dem
Nicht-mehr-fühlen, Nicht-mehr-merken, vor Stumpf-werden und
Gleichgültigkeit bewahrt. Geist und Macht standen sich als
Antipoden gegenüber. Auf Kritik, die aus der Gruppe 47 kam,
antwortete man in Bonn mit notorischer Intellektuellenschelte.
Heinrich Böll galt als unberechenbarer Anarchist, und der
Autor der Blechtrommel und der Hundejahre erfuhr, dass Bücher
Wut, Hass freisetzen können. Der CDU-Politiker Dufhues
verglich die Gruppe 47 mit der Reichsschriftumskammer in der
Nazi-Zeit und Ludwig Ehrhard bezeichnete Rolf Hochhut und andere
als Pinscher.
In den sechziger und siebziger Jahren wurde in beiden deutschen
Staaten wiederum ein ganz neues Kapitel zum Thema Schriftsteller
und Politik geschrieben.
Enttäuscht von ausbleibenden positiven Veränderungen nach
dem Mauerbau, bestürzt über die Besetzung der
Tschechoslowakei, und schließlich empört über die
Ausweisung Wolf Biermanns aus der DDR, gewannen Autoren wie zum
Beispiel Christa Wolf, Volker Braun und Christoph Hein kritische
Distanz zu den Mächtigen. Sie wollten den so genannten real
existierenden Sozialismus in der DDR zwar nicht stürzen, aber
gründlich reformieren helfen. Sprecher der vielen zum
Schweigen Verurteilten zu sein, so sah Günter de Bruyn nun die
Aufgabe des Schriftstellers in der DDR. Freie Räume des
Denkens, des Zu-sich-selber-findens, wollte Günter Kunert
schaffen. In der Bundesrepublik hingegen treten Schriftsteller
erstmals im Deutschland des 20. Jahrhunderts unübersehbar den
Wandel des Zeitgeistes voran, und gewannen Einfluss auf die
Politik. Offen riefen sie dazu auf, die CDU abzuwählen und der
SPD zur Regierungsübernahme zu verhelfen. Angeführt von
Günter Grass gründete man eine sozialdemokratische
Wählerinitiative, die der SPD neue Wählerschichten
erschloss und zweifellos zu ihrer Regierungsübernahme 1969
beigetragen hat. Doch ebenfalls in der zweiten Hälfte der
sechziger Jahre brach die Gruppe 47 auseinander. Ihre Mitglieder
zerstritten sich nachhaltig darüber, was nun eigentlich auf
der politischen Tagesordnung stehe, Reform oder Revolution. Die
einen blieben überzeugt, in einer sozialdemokratisch
geführten Bundesrepublik werde der seit langem anhaltende
Reformstau endlich aufgelöst, die Demokratie neu belebt und
der Ost-West-Konflikt durch Entspannungspolitik gemildert. Für
die anderen, stark beeinflusst von der außerparlamentarischen
Opposition an den Universitäten, war die SPD nichts weiter als
ein Teil eines heillos zerrotteten Systems.
In der Bundesrepublik, so formulierte es Hans Magnus Enzensberger,
habe sich ein institutionell gesicherter und maskierter neuer
Faschismus installiert, und deshalb sei die Revolution
unausweichlich. Sein Kollege Peter Schneider meinte, dass es den
westdeutschen Arbeitern und Bauern schlechter als in China gehe.
Sie stürben an Unterdrückung und Erniedrigung. Die
bürgerliche Ästhetik, Kritik, Literatur sei tot, scholl
es aus diesem Lager. Die Neuentdeckung des Marxismus, die
Revolution, sei deshalb unausweichlich. Naivität und
Intellektualität, Agitprop und sprachliche Brillanz, Arroganz
und Hilflosigkeit, das alles existierte nebeneinander. Und dennoch
gewannen auch diese rebellierenden Dichter als Teil der APO
Einfluss. Überspanntheit ist von jeder Neuerung
unzertrennlich. Franz Grillparzers Erkenntnis bewahrheitete sich
auch 150 Jahre später.
Nun endlich, unter anhaltendem Druck, begann auch in den Schulen,
Medien, Parlamenten, und nicht zuletzt in Elternhäusern, die
Aufarbeitung der Vergangenheit.
Schriller Protest gegen den Krieg in Vietnam, die Apartheid in
Südafrika, die Ausbeutung der Dritten Welt, blieb auf das
liberale Bürgertum nicht ohne Wirkung. Germanistische Seminare
beschäftigten sich erstmals ausführlich mit der Rolle von
Wissenschaftlern im Dritten Reich. Doch Mitte der siebziger Jahre,
mit dem Amtsantritt von Helmut Schmidt, verebbte der Dialog
zwischen Geist und Macht. Viele der erhofften Reformen hatte schon
die Regierung Brandt nicht durchgesetzt. Sowohl das Ende des
Vietnam-Krieges als auch der Terror der RAF leiteten das Ende der
Revolutionsbegeisterung ein.
Noch einmal, zu Beginn der achtziger Jahre, engagierten sich
Schriftsteller in der bundesdeutschen Friedensbewegung, um die
Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland zu
verhindern.
Auf zwei Jahrzehnte lauter politischer Einmischung folgte Stille.
Unterstützt von der DDR-Bevölkerung blieb die
Überwindung der deutschen Teilung Sache der Politiker. Die
Schriftsteller spielten so gut wie keine Rolle im
Vereinigungsprozess. Wie erklärt sich der mit der Wende
einsetzende Rückzug zahlreicher einst engagierter Autoren,
ihre Resignation, ihr Fatalismus?
Vergegenwärtigen wir uns die atemberaubenden
Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts. Utopien und
Wahrheiten, Ideologien und Sicherheiten, die noch seine zweite
Hälfte prägten, sind versunken, nicht nur der
Kommunismus. Auch der demokratische Sozialismus und die soziale
Marktwirtschaft bieten keine überzeugenden Alternativen mehr
gegen Arbeitslosigkeit, Globalisierung, und den zunehmenden
Einfluss der Wirtschaft auf die Politik. Was bedeutet es noch,
‚links' zu sein? Der einstige Revolutionär Hans Magnus
Enzensberger plädierte nun für den Abschied von
moralischen Allmacht-Phantasien und sang ein Loblied auf die
Bundesrepublik unter Helmut Kohl. In einem bemerkenswerten Aufsatz
konstatierte der Tübinger Professor Jürgen Schröder:
"Abhanden gekommen ist uns die herzerfrischende
Freund-Feind-Landkarte und die reinliche Wasserscheide von Gut und
Böse, seitdem es die Konfrontation der beiden großen
politischen und militärischen Blöcke nicht mehr gibt. Wir
wissen weder, wo wir selber stehen, noch wo dasjenige zu
lokalisieren ist, dem wir widerstehen wollen. Die Stunde der
einfachen Wahrheiten, Botschaften und Widerstandsaktionen ist
vorbei."
Jawohl, die Literatur hat ihre frühere Wirkungskraft verloren,
äußerten nun auch die Verunsicherten. Nun forderten die
Feuilleton-Chefs großer Zeitungen eine gesinnungsfreie,
zweckfreie Literatur. Sie konstatierten, dass der ästhetisch
mündige Bürger sich möglichst fernzuhalten habe von
jedwedem unter Politikverdacht stehendem Sujet oder Vokabular. Das
Zeitalter der Literatur, in der Bücher zu den Taten von morgen
Anlass gaben, scheint vorbei, konstatierte Günter Grunert.
Gewiss, der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass
mischte sich auch weiter ein, wurde von der Wirklichkeit zuweilen
mit seinen Übertreibungen übertroffen, zuweilen auch
eines Besseren belehrt, solidarisierte sich mit Verfolgten,
provozierte zum lauten Ja und zum empörten Nein, ließ
uns nicht in Ruhe, schon gar nicht die Politiker, und wurde zum
Einzelgänger innerhalb der Zunft. Ein großer Teil seiner
älteren Kollegen zog sich je nach Begabung zurück in den
Elfenbeinturm oder in das Schneckenhaus. Jüngere wurden als
begabte Selbstdarsteller Zulieferer der Pop-Kultur, der
Spaßgesellschaft in den Partyschuppen mit ihren literarischen
Events und dem unermüdlichen Trallala in vielen Medien. Der
Schriftsteller von heute ist jung, schick und heiter, gibt sich
abgeklärt, illusionslos und mit allen Wassern des Umgangs mit
der virtuell verdoppelten Wirklichkeit unserer Medien- und
Konsumwelt gewachsen. So charakterisierte ‚Die Zeit' den
neuen Autorentyp. Das war gestern.
Und heute? Ist wieder alles anders? Im Augenblick sieht es so aus.
Eben noch war vom Ende aller Utopien und von einer völlig
entpolitisierten Jugend die Rede, und nun in diesem Frühjahr
2003 erleben wir angesichts des Irak-Krieges einen spontanen
Aufstand, nein, nicht der Schriftsteller, sondern der Jungen, der
Schülerinnen und Schüler. Sie bilden den Kern der bisher
größten und friedlichsten Friedensbewegung in der
Geschichte der Bundesrepublik. Ihrem Charakter nach
parteiübergreifend, ja partei-unabhängig, mit der
Regierung im Grundsatz einig, und beflügelt durch den
weltweiten Protest gegen diesen Krieg. Die Jungen, so sieht es aus,
pusten jenen dichten Mehltau weg, der seit Jahren über unserem
Land liegt und uns das Atmen immer schwerer macht.
Vor meinen Augen sehe ich tausende von jungen Menschen zu Ostern
für den Frieden demonstrieren, und entschließe mich nun,
wider alle rhetorischen Regeln und Gesetze, mein eigentliches Thema
einfach aufzugeben, meine Kollegen, die Autoren, die ja auf Dauer
doch unverzichtbare Chronisten des Zeitgeschehens bleiben,
zuschauend an den Straßenrand zu stellen und mich Ihnen hier
direkt zuzuwenden. Lassen Sie uns gemeinsam über den Charakter
dieser neuen Bewegung nachdenken. Einer Bewegung, die den Zeitgeist
wiederum verändern könnte, und uns fragen, welche
Konsequenzen sich daraus ergeben. Zwar steht das Nein zum Krieg im
Vordergrund, doch zugleich, Professor Rucht von der FU hat darauf
hingewiesen, drückt diese Bewegung der Jungen ein zunehmendes
Unbehagen an den globalen politischen Verhältnissen aus. Immer
mehr identifizieren sich mit dem 1998 in Frankreich entstandenen
Organisationsbündnis Attac. Dessen Tätigkeit richtet sich
gegen eine Globalisierung, die dominiert von mächtigen
Wirtschaftsinteressen, Großbanken und internationalen
Konzernen die Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt vertieft.
Attac fordert eine neue, gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Ein
weitgestecktes Ziel. Immerhin, in der Bundesrepublik sind in den
letzten Jahren 160 Aktionsgruppen und Arbeitskreise entstanden.
Wächst da eine weltweite Protestbewegung heran, die Einfluss
auf die Politik gewinnen könnte? Welche Folgen zeitigt der
moderne, der totale Krieg? Und wie können jene Ursachen
beseitigt oder doch abgeschwächt werden, die zu
militärischen Konflikten führen? Darüber
nachzudenken und seine Tatkraft für den Wandel einzusetzen,
ist meines Erachtens jetzt das Wichtigste.
Die Folgen des modernen Krieges stehen uns im Irak anschaulich vor
Augen. Panzer und anderes schweres Kriegsgerät haben die
Kieselschichten der Wüsten aufgerissen, das vermehrt die Sand-
und Staubstürme im Land. Auslaufendes Öl führt durch
das Einatmen giftiger Stoffe zu Gesundheitsschäden, zur
Verseuchung des Trinkwassers, der landwirtschaftlichen
Hauptanbaugebiete an den großen Flüssen. Brennendes
Öl erzeugt einen verheerenden schwarzen Regen, führt zu
Klimaveränderungen durch Temperaturabfall und zunehmenden
starken Winden sowie ebenfalls zu Schäden der
landwirtschaftlichen Nutzgebiete. Könnte Sie die
Beschäftigung mit den Auswirkungen des Krieges auf die
Lebensgrundlagen der Menschen anregen, sich der Arbeit der
internationalen Umweltschutz-Organisation Greenpeace zuzuwenden?
Der Frieden wird bedroht durch Armut und Hunger auf der Welt. Sie
bilden einen Nährboden für Gewalt und Terror, für
Flucht in den religiösen Fanatismus. Jährlich verhungern
neun Millionen Menschen, täglich sterben 24.000 Kinder, weil
sie nicht genug zu essen haben.
Ich beneide Sie darum, sich im kommenden Semester gründlich
mit dem Theater am Hofe Ludwig XIV. und Hofmannsthals Dramen zu
beschäftigen. Aber wäre es nicht wenigstens einigen von
Ihnen möglich, in Zusammenarbeit mit der Welthungerhilfe sich
zugleich einzusetzen für die Versorgung der Menschen in den
zerstörten Städten und Dörfern des Irak, für
den Bau von Brunnen in afrikanischen Dörfern oder die
Einrichtung von Ausbildungsstätten für
Straßenkinder in Lateinamerika? Hilfe zur Selbsthilfe zu
leisten. Und schließlich: Die Unterdrückung von Menschen
führt auf Dauer immer wieder zu Revolten, Aufständen und
Kriegen. Für die Verwirklichung der Menschenrechte in allen
Staaten setzt sich mit gewaltfreien Mitteln Amnesty International
ein, deren deutsche Sektion Gerd Ruge und ich 1961 gegründet
haben und deren Mitglieder hier an der FU Sie an ihrem Stand gerade
gegenüber von der Garderobe über unsere Arbeit
informieren.
Können Sie sich vorstellen, wie die Arbeit von Amnesty mein
Leben bereichert hat? Ich begriff, was Toleranz bedeutet. In meiner
Jugend von Mitleidlosigkeit bedroht, erwarb ich die menschliche
Fähigkeit zum Mitleiden, zur tätigen Hilfe und
Solidarität mit der von Steinigung bedrohten Frau im Iran, dem
verfolgten chinesischen Sektenmitglied und dem Flüchtlingskind
aus dem Irak. Darum will ich in einer Zeit, in der Visionen und
Utopien nichts mehr gelten sollen, festhalten an der Vorstellung
von einer Welt ohne Terror, Folter und Verfolgung. Auch die
Abschaffung der Sklaverei und der Leibeigenschaft waren einmal
Utopien. Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, ich, die jetzt
bald Achtzigjährige, gehöre zu einer Generation, die in
ihrer Jugend das erste Mal moralisch auf die Probe gestellt,
versagte. Laut Heil rufend sind zu viele von uns damals zu
Mitschuldigen geworden. Gewiss will ich nicht vergleichen, was
nicht zu vergleichen ist, doch dessen bin ich gewiss, eines Tages
werden auch Sie Ihre Kinder und Enkelkinder fragen: Ihr habt es
doch erlebt, wie unsere Umwelt immer mehr verrottete, ihr habt es
doch gewusst, wie viele Menschen auf der Welt verhungert, wie viele
erniedrigt und verfolgt worden sind, durch Krieg und Terror um ihr
Leben kamen. Und was habt ihr getan? Und ich hoffe, dass Sie dann
besser dastehen werden als meine Generation.
16. April 2003