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„Die EU hat in Krisen Resilienz bewiesen“

campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ / Teil 9: Interview mit Tanja A. Börzel, Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration an der Freien Universität

27.04.2020

Die von den Populisten geforderte Rückkehr zum Nationalstaat scheine wenig geeignet, Pandemien wirksam zu bekämpfen und deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen zu bewältigen, sagt Prof. Dr. Tanja Börzel.

Die von den Populisten geforderte Rückkehr zum Nationalstaat scheine wenig geeignet, Pandemien wirksam zu bekämpfen und deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen zu bewältigen, sagt Prof. Dr. Tanja Börzel.
Bildquelle: shutterstock.com/khaleddesigner

Was verändert sich durch die Corona-Pandemie? Welche Folgen hat sie für das Leben jedes Einzelnen, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur? Über die Reaktion der Europäischen Union auf die Pandemie spricht Jonas Huggins im aktuellen Interview der campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ mit Tanja A. Börzel, Professorin für Europäische Integration an der Freien Universität und Co-Sprecherin des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script – SCRIPTS“.

Frau Professorin Börzel, ein verbreiteter Eindruck ist: Während der Covid-19-Pandemie sind es die Nationalstaaten, die schnell handeln, während die Europäische Union blockiert ist. Stimmt das?

Prof. Dr. Tanja A. Börzel hat seit Ende 2004 den Jean-Monnet-Lehrstuhl am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin inne.

Prof. Dr. Tanja A. Börzel hat seit Ende 2004 den Jean-Monnet-Lehrstuhl am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin inne.
Bildquelle: SCRIPTS

Es stimmt, dass die Mitgliedstaaten zunächst einzeln auf das Coronavirus reagiert haben. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die Europäische Union einen begrenzten Handlungsspielraum hat. Die EU ist kein Staat: Sie kann nur das tun, wofür ihr die Mitgliedstaaten Kompetenzen übertragen haben. In der Gesundheitspolitik und im Katastrophenschutz hat sie nur wenige Befugnisse. Das könnte sich mit dieser Krise ändern. Bisher besteht die Rolle der EU darin, das Handeln der Mitgliedstaaten zu koordinieren.

Die Finanzkraft der EU ist gleichermaßen begrenzt, weil sie über keine eigenen Einnahmen verfügt, sondern vollständig von den Beiträgen der Mitgliedstaaten abhängig ist. Die EU-Finanzminister haben sich inzwischen auf eine Reihe wichtiger Maßnahmen verständigt. Die EU hilft den Mitgliedsstaaten bei der Finanzierung von Kurzarbeitsgeld in Höhe von 100 Milliarden Euro. Außerdem werden 37 ungenutzte Milliarden Euro aus den EU-Strukturfonds für die Bekämpfung der Pandemie verfügbar gemacht. Die Europäische Investitionsbank unterstützt Unternehmen über Bürgschaften mit 200 Milliarden Euro zusätzlicher Darlehen, und die Mitgliedsstaaten können Kredite in Höhe von insgesamt 240 Milliarden Euro aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus erhalten.

Besonders aus Italien und Spanien wurden Forderungen nach sogenannten Corona-Bonds laut, doch dazu gibt es in Europa keine Einigung. Zeigt das, dass nationalstaatliche Interessen schwerer wiegen als europäische Solidarität?

Corona-Bonds sind wie Eurobonds rechtlich sehr schwierig, denn eine Vergemeinschaftung der Schulden ist nach den EU-Verträgen nicht zulässig. Indem sie Staaten, die sich stark verschuldet haben, Zugang zu Krediten mit niedrigeren Zinsen verschaffen, könnten sie das zugrundeliegende Problem, die hohe Staatsverschuldung, außerdem noch verschärfen. Das Thema Corona-Bonds ist nicht nur eine Frage der Solidarität, sondern auch der Fairness. Damit der Binnenmarkt funktioniert, müssen alle die gleichen Chancen haben, im Wettbewerb bestehen zu können.

Die Corona-Krise verschärft die strukturelle Ungleichheit unter den Mitgliedstaaten. Um dem entgegenzuwirken, muss Deutschland nicht nur seinen Handelsüberschuss reduzieren, sondern auch einen Beitrag dazu leisten, dass andere Staaten ihre nicht selbst verschuldeten Wettbewerbsnachteile abbauen können. Das ist auch im ureigenen Interesse der deutschen Wirtschaft, nicht nur wegen der Absatzmärkte, sondern auch der Zulieferindustrien.

Deshalb scheint ja auch Bewegung in die Diskussion zu kommen. Inzwischen liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, mithilfe des EU-Haushalts als Sicherheit Geld aufzunehmen und dieses als Beihilfen oder Zuschüsse zum wirtschaftlichen Wiederaufbau an von der Corona Pandemie besonders betroffene Mitgliedstaaten zu geben – vielleicht wird so die unselige Debatte um die Corona-Bonds beendet.

Was mir bei diesen Diskussionen zu kurz kommt, ist Solidarität im Umgang mit den Menschen in griechischen Flüchtlingslagern. Sie sind dort – das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt – zu unmenschlichen Bedingungen untergebracht. Man will sich gar nicht vorstellen, welche Konsequenzen ein Ausbruch des Virus in diesen Lagern haben kann. Eine Koalition der Willigen von zehn EU-Staaten und die Schweiz haben zugesagt, insgesamt 1600 unbegleitete Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Davon sind gerade einmal zwölf in Luxemburg und weniger als 50 in Deutschland eingetroffen.

In manchen Medien findet sich der Vorwurf, die Pandemie verlaufe nur deshalb so schlimm, weil wegen der EU-Austeritätspolitik an den Gesundheitssystemen gespart worden ist. Ist da etwas dran?

Das ist intuitiv erst einmal einleuchtend: Die Jahre der Austeritätspolitik haben den öffentlichen Versorgungsstrukturen bestimmt nicht gutgetan. Mir sind aber keine Daten bekannt, die zeigen, dass die EU unmittelbar für schwache Gesundheitssysteme verantwortlich wäre. Studien zeigen vielmehr, dass – vielleicht mit der Ausnahme der Verteidigungsausgaben – Regierungen in der Gesundheitspolitik gewöhnlich zuletzt sparen.

Dass Gesundheitssysteme nicht gut vorbereitet waren, hat vielfältige Ursachen. Das System Italiens zum Beispiel hat schon seit vielen Jahren große Mängel. Dass selbst in der Lombardei, einer der reichsten Regionen Europas, die Krankenhäuser so schnell an ihre Belastungsgrenzen gekommen sind, ist durch Sparzwänge aus Europa allein nicht zu erklären. Da wurden in der lokalen Politik lange Zeit die falschen Prioritäten gesetzt. Es ist billig, die Schuld woanders zu suchen: Während die USA China verantwortlich machen, zeigt man in Italien gerne mit dem Finger auf die EU.

In der Krise sind die Grenzen geschlossen worden, und einige Länder haben auf manche Güter Exportstopps erlassen. Werden Schengenraum und Binnenmarkt langfristigen Schaden erleiden?

Die europäische Integration hat mit ihren offenen Grenzen die Ausbreitung des Virus zunächst wohl befördert. Da war es richtig, die Bewegungsfreiheit einzuschränken – nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Mitgliedsstaaten. Dass das Schengener Abkommen langfristig bedroht ist, glaube ich aber nicht. Der Schaden an der Wirtschaft ist in der Corona-Pandemie gerade wegen der Grenzschließungen so groß. Die deutsche Autoindustrie ist zum Beispiel auf Zulieferbetriebe in Norditalien angewiesen. Das ist der Grundgedanke hinter der Integration: Die europäische Wirtschaft ist inzwischen so eng miteinander verflochten, dass es ein sehr großes Interesse gibt, den gemeinsamen Markt aufrechtzuerhalten.

Besonders in Polen und in Ungarn gibt es erneut Sorge um Rechtsstaatlichkeit. Kann die Europäische Union verhindern, dass die Krise missbraucht wird, um die Demokratie auszuhöhlen?

Die Probleme mit Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn und auch in anderen Ländern gab es schon vor der Corona-Pandemie. Die EU-Institutionen hätten darauf schon früher vehementer reagieren können. Zum Beispiel hätte sie die Europäische Volkspartei (EVP) Fidesz – die Partei von Viktor Orbán – ausschließen können, statt nur ihre Mitgliedschaft zu suspendieren. Nun scheint Orbán auch noch für seine EU-feindliche, autoritäre Politik belohnt zu werden.

Bei den Pandemiehilfen, die aus den Strukturfonds der EU stammen, wird der Verteilungsschlüssel der Kohäsionspolitik verwendet, die Gelder fließen also an wirtschaftlich schwache Regionen. So erhält Ungarn ein Vielfaches dessen, was das von der Pandemie viel stärker betroffene Italien ausgezahlt bekommt. Man sollte darüber nachdenken, ob EU-Mittel zukünftig noch an Staaten gehen sollen, die sich den grundlegenden demokratischen Prinzipien der EU widersetzen.

Aber das wird nicht leicht sein, denn die EU ist eine Rechtsgemeinschaft, deren Regeln und Verfahren von ihren Mitgliedstaaten gemacht werden. Die Visegrad-Staaten – Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien – würden einer Änderung der Verteilungskriterien wohl kaum zustimmen. Es ist schwer, einen Teich trockenzulegen, wenn Sie vorher die Frösche fragen müssen.

In der Pandemie sind viele Grundrechte eingeschränkt worden. China scheint die Eindämmung der Pandemie zum Beispiel besser zu gelingen als den USA oder Europa. Viele EU-Kritiker wünschen sich einen starken Nationalstaat auch auf Kosten demokratischer Prozesse. Stützt die Krise deren Argumente?

Tatsächlich ist es so, dass der Regimetyp – Autokratie oder Demokratie – keine große Erklärungskraft dafür besitzt, wie erfolgreich ein Land die Krise besteht. Einerseits gehen nicht alle autokratischen Länder effektiv mit der Pandemie um – denken Sie an Iran, Russland oder Nicaragua. Andererseits gelten stabile Demokratien wie Südkorea und Taiwan als Vorbilder für die Bewältigung der Pandemie.

Statt des Regimetyps könnte der Populismus eine Rolle spielen. Demokratien mit populistischen Regierungen – Großbritannien, die USA, Brasilien – haben besonders große Probleme damit, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen.

Der bekannte Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat darauf hingewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen einer verzögerten Antwort auf die Krise und dem geringen Vertrauen in die Regierung gibt. Populisten haben nicht nur wenig Vertrauen in wissenschaftliche Expertinnen und Experten, die sie häufig als Teil der sogenannten „kosmopolitischen Eliten“ diffamieren. Sie unterminieren auch das Vertrauen in die politischen Institutionen selbst.

In unserem Exzellenzcluster SCRIPTS untersuchen wir die Herausforderungen liberaler Ordnungsvorstellungen und Institutionen sowohl durch Autokratien als auch durch den Populismus. Wir wollen in den kommenden Monaten erforschen, wie sich diese Herausforderungen in Zeiten der Pandemie verhalten und welche politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen sie haben.

Die junge EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hatte sich ein ambitioniertes Arbeitsprogramm vorgenommen. Wird die Kommission das noch umsetzen können?

Da werden bestimmt Prioritäten gesetzt werden müssen, manches wird wohl hinter der Bewältigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie zurücktreten. Doch für einige Ziele der Kommission kann die Krise auch eine Chance sein. Zum Beispiel wird uns jetzt erst richtig deutlich, wie wichtig die Digitalisierung ist, eines der großen Themen, die die Kommission in Angriff nehmen will.

Meine Lehrveranstaltungen finden in diesem Semester alle online statt. Da haben Studierende aus São Paulo oder Tiflis teilweise eine bessere Verbindung als ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen in ländlichen Regionen Deutschlands. Ich denke, der Digitalisierung wird die Krise daher Vorschub leisten.

In den vergangenen Jahren hat die EU schon viele Krisen mitmachen müssen. Glauben Sie, dass die Pandemie nun die Zukunft der Union gefährdet?

Ich lehre seit mehr als 20 Jahren zu europäischer Politik. In der Zeit hat sich die EU nahezu permanent im Krisenmodus befunden: EU-Verfassungskrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Eurokrise, Griechenlandkrise, Migrationskrise, Brexit-Krise, Populismus-Krise – und nun die Corona-Krise. Immer wieder wurde vorhergesagt, Europa breche auseinander, wenn die EU jetzt nicht sehr bald den Sprung zu den Vereinten Staaten von Europa schaffe.

Tatsächlich hat die EU immer wieder Resilienz bewiesen. Und sie ist besser als ihr Ruf – das hängt auch mit den überzogenen Erwartungen zusammen, die an die EU gestellt werden: Die EU hat weder die Regulierungskompetenzen noch die Finanzkraft eines Staates. Gleichzeitig wird die EU gerne von Politikerinnen und Politikern für Probleme verantwortlich gemacht, für die gerade diese Politiker ihr die Zuständigkeit verweigern. Auch das ist nichts Neues.

Ich bin zuversichtlich, dass die EU auch diese Krise meistern wird. Die von den Populisten geforderte Rückkehr zum Nationalstaat scheint jedenfalls wenig geeignet, Pandemien wirksam zu bekämpfen und deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen zu bewältigen.

Die Fragen stellte Jonas Huggins

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