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Von wegen „Wokeness“: So einfach lässt sich die Gesellschaft nicht spalten

Studie von Soziologen der Freien Universität Berlin und der Universität Bielefeld untersuchte Umfrage-Faktoren und Meinungspolarisierung

Nr. 095/2024 vom 06.05.2024

Meinungsvielfalt gehört zu den Pfeilern der Demokratie und sollte nicht mit Polarisierung gleichgesetzt werden: Ausgehend von dieser Maxime haben Soziologen in einer aktuellen Studie Frage-Faktoren in Umfragen untersucht, die Bürger:innen zu rigorosen Gegnern oder Befürwortern politischer Aussagen machen können. Die Soziologen Prof. Dr. Céline Teney, Dr. Giuseppe Pietrantuono von der Freien Universität Berlin und Dr. Tobias Wolfram von der Universität Bielefeld sind dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass in Umfragen nur wenige Fragestellungen und Themen das Potenzial aufweisen, die Gesellschaft zu polarisieren. Die Studie „What polarizes citizens? An explorative analysis of 817 attitudinal items from a non-random online panel in Germany” ist gerade in dem Online-Fachmagazin „PlosOne“ erschienen (https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0302446 )  

Die Forschenden der Freien Universität Berlin und der Universität Bielefeld haben die Antworten auf insgesamt 817 Fragen analysiert, die das Meinungsforschungsinstitut Civey in verschiedenen Umfragen deutschen Bürger:innen zwischen Januar und Oktober 2022 gestellt hat. Alle Umfragethemen hatten eine politische Stoßrichtung - ihr Spektrum reichte von Fragestellungen wie „Für wie bürokratisch halten Sie Deutschland?“ über „Sollten Plastiktüten sofort verboten werden?“ bis zu hin zu „Sollten homosexuelle Paare die gleichen Adoptionsrechte haben wie heterosexuelle Paare?“

Geringes Polarisierungspotenzial

Eines der Kernergebnisse der Studie: „Eine nennenswerte distributive Polarisierung lässt sich in Deutschland bei keinem Thema beobachten. Sie läge erst vor, wenn sich die überwiegende Mehrzahl der Bürger:innen für einen der beiden Pole des Meinungsspektrums entscheiden würde“, erklärt die Makrosoziologin Prof. Dr. Céline Teney. Bei nur 20 Prozent der Fragen zeigten sich an den Rändern gewisse Ballungen. So etwa bei der strittigsten aller Fragen des Untersuchungszeitraums: „Sollte jeder Erwachsene automatisch als Organspender gelten, wenn er nicht explizit widerspricht?“. Bei dieser Frage ballten sich die Antworten der Befragten mehrheitlich auf den zwei Polen, welche einen deutlichen Zuspruch bzw. eine deutliche Ablehnung darstellen.

Wie stark eine Frage das Antwortverhalten von Befragten polarisiert, wurde von den Forschenden anhand des sogenannten van-der-Eijk-Index gemessen. Der Index reicht von -1 bis +1. Der Wert -1 bedeutet, dass sich die Befragten klar in zwei Lager aufteilen lassen und eine von zwei extremen Antwortkategorien wählen. Der Wert +1 bedeutet, dass alle Befragten das gleiche Antwortverhalten zu einer Frage haben. Die Frage zur Organspende wies in der Studie einen van-der-Eijk-Index von -0.55 und damit die stärkste gemessene Polarisierung auf.

Die Wissenschaftlerin betont: „Die soziologische Forschung hat wiederholt nachgewiesen, dass von einer Meinungspolarisierung in Deutschland keine Rede sein kann. Wir hoffen, dass unsere besonders große Stichprobe von Fragen dazu beitragen wird, die Debatte auf die wahren Gefahren für unser Zusammenleben zu lenken: Desinformation und eine verrohende Diskussionskultur“ Hier müssten Politik, Medien und Zivilgesellschaft ansetzen, statt sich an der falschen Diagnose „Polarisierung“ abzuarbeiten, so die Soziologin.

Wesentliche Faktoren: mediale Präsenz und Formulierung

In ihrer Studie sind die Forschenden zudem erstmals umfassend Faktoren nachgegangen, die Ballungen an den Polen begünstigen. Laut der Untersuchung lassen sich die Ergebnisse wie folgt zusammenfassen:

  1. Gegensätzliche Meinungen werden signifikant häufiger geäußert, wenn ein Thema kürzlich besondere Beachtung in den Medien gefunden hat. „Steht ein Thema im Fokus, fühlen sich viele Bürger:innen emotional genötigt, Position beziehen“, erläutert Dr. Giuseppe Pietrantuono von der Freien Universität Berlin. Das gelte besonders, wenn sie sich dazu früher bereits eine Meinung gebildet haben. „Neue Informationen und Einschätzungen werden entweder als Bestätigung verstanden oder als Bedrohung der eigenen Denkweise abgewiesen.“
  2. „Harte“ politische Fragen weisen ein höheres Polarisierungspotenzial auf als Fragen mit einem sozio-kulturellen Hintergrund. Dieser Befund hat die Forschenden überrascht. „Ausgehend von der Theorie des kulturellen Backlash mussten wir annehmen, dass der Einsatz für die Rechte von LGTBQI+ und ethnischer Minderheiten sowie das Reizthema Gender zu gewissen Ausschlägen an den Polen des Meinungsspektrums führen würden“, führt Professor Dr. Céline Teney aus. Die Bürger:innen reagierten darauf aber moderater als etwa auf die Frage, ob Deutschland die Ukraine weiterhin so unterstützen solle wie bisher. „Unsere Analyse lässt den Schluss zu, dass es sich bei den Verächter:innen der sogenannten ‚Wokeness‘ eher um eine Minderheit handelt“, so die Soziologin.
  3. Betont eine politische Frage die zu erbringenden persönlichen Opfer, steigt die Zahl der stark ablehnenden beziehungsweise stark zustimmenden Antworten. Betont die Frage hingegen einen möglichen Nutzen, fallen die Ausschläge sehr viel moderater aus. Beispiele aus dem Jahr 2022: Die Forderung nach einer allgemeinen Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen (Beschränkung individueller Freiheit) hatte ein höheres Polarisierungspotenzial (-0,32 auf dem van-der-Eijk-Index) als das Privileg, ohne Covid-Test zur Schule zu gehen (Aufhebung einer Beschränkung, 0,00 auf dem Index).
  4. Je weiter sich eine Frage von der Abstraktions- auf die Lösungsebene bewegt, desto konträrer fallen die Reaktionen aus. Beispiel: Die meisten Bürger:innen versammeln sich hinter der allgemeinen Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit. Bei der Frage nach Quoten gehen die Meinungen aber auseinander. „An Werte wie Fairness zu appellieren, überbrückt Gegensätze“, sagt Dr. Giuseppe Pietrantuono. „Erst an den konkreten politischen Instrumenten scheiden sich die Geister.“ Diese Tatsache sollte beispielsweise in Umfragen stärker berücksichtigt werden. „Wenn ich zu Polarisierung forsche, sollte ich sachlich, aber konkret fragen“, so Dr. Giuseppe Pietrantuono. „Andernfalls weise ich möglicherweise Harmonie nach, wo keine herrscht.“

Die Soziolog:innen der Freien Universität Berlin und der Universität Bielefeld hoffen, dass ihre umfangreiche Untersuchung einen weiteren Zugang zur Erforschung von Polarisierung legt. „Wir werfen Fragen zur Methodik unseres Fachs auf, belegen zugleich aber auch die gesellschaftliche Relevanz akademischer Beiträge“, sagt Professor Dr. Céline Teney. „Der öffentlichen Debatte stellen wir uns gerne.“

Weitere Informationen

Kontakt zu den Autor:innen der Studie

  • Professor Dr. Céline Teney lehrt Makrosoziologie an der Freien Universität Berlin. Sie forscht unter anderen zum sozialen Konfliktpotenzial der Globalisierung. E-Mail: celine.teney@fu-berlin.de
  • Dr. Giuseppe Pietrantuono forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin zu Fragen der Migrationspolitik und Integration. E-Mail: giuseppe.pietrantuono@fu-berlin.de
  • Tobias Wolfram ist Doktorand an der Universität Bielefeld und forscht an der Schnittstelle zwischen Soziologie, Psychologie und Genetik. E-Mail: tobias.wolfram@uni-bielefeld.de