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„Wir werden jahrzehntelang an diesem Trauma zu knacken haben“

campus.leben-Serie „Corona – Fragen an die Wissenschaft“ / Teil 2: Interview mit dem Historiker Paul Nolte vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität

28.03.2020

Eine tiefe historische Zäsur: Im zweiten Teil unserer Reihe zur Corona-Pandemie sprach Dennis Yücel mit Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte.

Eine tiefe historische Zäsur: Im zweiten Teil unserer Reihe zur Corona-Pandemie sprach Dennis Yücel mit Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte.
Bildquelle: shutterstock.com/khaleddesigner

Was verändert sich durch die Corona-Pandemie? Welche Folgen hat sie für das Leben jedes Einzelnen, welche Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur? In einer neuen Serie bittet campus.leben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität Berlin, aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive auf die derzeitige Situation zu blicken. Im zweiten Teil der Reihe sprach Dennis Yücel mit Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, über die Angst vor dem Handschlag, das mögliche Ende des Neoliberalismus und die Gefahren des Notstands.

Herr Professor Nolte, es gibt eine Redewendung, die derzeit öfter zu hören ist: Man bezeichnet die Corona-Pandemie als „Krise von historischem Ausmaß“. Wie schätzen Sie als Geschichtswissenschaftler die Lage ein?

Tatsächlich zeigt der Blick zurück, dass die Menschen meist ein gutes Gespür dafür haben, was eine historisch bedeutsame Situation ist. Das war beim Fall der Berliner Mauer so oder auch bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Den Zeitgenossen war damals unmittelbar klar, dass die „Stunde der Geschichte“ schlug. So ist es auch jetzt. Die Corona-Pandemie ist bereits heute als eine tiefe historische Zäsur erkennbar: Es handelt sich nicht um einen kurzfristigen Einschnitt, der über kurz oder lang wieder in die ursprüngliche Situation zurückführen wird. Es wird zwar in einigen Bereichen wieder zur Normalisierung kommen, aber vieles wird auch anders werden oder anders bleiben: in der Wirtschaft, der Politik, aber auch in unserem Sozialverhalten, unserer Freizeit- und Arbeitskultur.

Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Können Sie Beispiele nennen?

Das geht quer durch. Der stationäre Einzelhandel wird nicht mehr so werden, wie er war – er verliert dauerhaft an den Online-Handel. Unser Mobilitätsverhalten ändert sich; die Lebenshorizonte werden ein Stück weit eingeschrumpft bleiben – gewiss, gut für das Klima. Die Angst vor dem Handschlag oder der Umarmung wird lange bleiben; also setzen sich andere Begrüßungsrituale durch.

Am meisten Sorge macht mir, dass eine so dramatische Alltagskrise nicht ohne traumatische Folgen bleiben kann, individuell, aber auch in der kollektiven Erinnerung. Wir werden jahrzehntelang an diesem Trauma, an dieser Erinnerung zu knacken haben.

Wie wirkt sich eine derartige Krise auf die gesellschaftliche Ordnung aus?

Man kann sich eine Krise als Weiche vorstellen, als „Spurwechsler“: Gesellschaftliche Entwicklungen werden – wie ein Zug – auf ein anderes Gleis gelenkt. Ein typischer Effekt ist die massive Verstärkung von Trends, die gesellschaftlich bereits angelegt waren. Denken Sie an das Arbeiten im Home Office. Die Debatte darüber ist seit geraumer Zeit im Gang – nun wird aus dem Reden darüber plötzlich zig-millionenfache Realität.

Wirtschaftspolitisch waren die vergangenen Jahrzehnte immer wieder geprägt von Kritik an zunehmender Privatisierung, unter anderem im Bereich der Gesundheitsversorgung. Könnte die Krise auch hier als Beschleuniger wirken und das Ende einer „neoliberalen“ Wirtschaftspolitik markieren?

Ja. Wenn man unter einer „neoliberalen“ Gesellschaft eine solche versteht, in der die Staatstätigkeit und staatliche Regulierung in immer weiteren Bereichen des Lebens zugunsten freier Marktinitiative zurückgedrängt werden – dann könnte die Corona-Krise tatsächlich das Ende des Neoliberalismus bedeuten.

Wie wird das aussehen?

Wir erleben schon jetzt, nicht nur in Deutschland, eine massive staatliche Unterstützung der Wirtschaft. Staatsbeteiligung oder gar die Verstaatlichung von Unternehmen sind plötzlich zum Greifen nahe – Ideen, die man vorher aus einem ganz anderen politischen Kontext kannte.

Die Staatstätigkeit dehnt sich aus, das wird auf absehbare Zeit bleiben. Aber möglicherweise erleben wir auch eine neue Solidarität mit gesellschaftlich Schwächeren, eine Bereitschaft zur Empathie und Unterstützung, die sich über die akute Krisenphase hinweg erhält: nachbarschaftliche Hilfe, Sorge um Obdachlose, Solidarität mit dem Händler an der Ecke. Auch insofern: ein Abschied vom Neoliberalismus, wenn man darunter den privaten Hedonismus oder die individualistische Ellenbogengesellschaft versteht. Dieses verstärkte Engagement steht aber nicht mehr unter sozialistischen Vorzeichen, sondern eher im Zeichen eines neuen Solidarismus der demokratischen Mitte. Wir erleben Pragmatismus statt politischer Flügelkämpfe.

Kann dieser „Solidarismus der demokratischen Mitte“ auch populistischen Parteien wie der AfD Einhalt gebieten?

Tatsächlich ist die Corona-Krise bislang nicht die Stunde der Populisten, und es spricht vieles dafür, dass dies so bleibt. In der Sprachlosigkeit der Populisten offenbart sich die Schwäche ihrer Einfachrezepte. Die liberale Demokratie hingegen beweist derzeit Stärke und Führungsfähigkeit. Möglicherweise ist das tatsächlich das Signal für den Abstieg des Populismus, wie wir ihn im vergangenen Jahrzehnt kannten.

Gleichwohl vollziehen sich in Mittel- und Osteuropa gerade auch gegenteilige Effekte. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán versucht die Krise als Legitimation für eine weitere Entmachtung des Parlaments zu nutzen. In Russland müssen wir genau beobachten, ob Präsident Wladimir Putin im Windschatten der Pandemie eine Verfassungsreform durchsetzt, die ihm die Herrschaft auf Lebenszeit sichert. Und bei uns könnte die Kehrseite einer Schwächung des Extremismus, die Kehrseite einer Sammlung der demokratischen Mitte ein übergroßer Konformismus sein, auch in der Zivilgesellschaft: Alle beeilen sich, die Regierungsmaßnahmen zu begrüßen und zu unterstützen. Das kann nicht lange gut sein.

Könnte auch in Deutschland der Rechtsstaat durch Notverordnungen Schaden nehmen?

Eine Krise von solchen Ausmaßen, wie wir sie derzeit erleben, ist immer die „Stunde der Exekutive“. Da kann es durchaus autoritäre Versuchungen geben. Auch gefestigte liberale Demokratien wie die Bundesrepublik müssen achtgeben, dass Maßnahmen, die als befristete Ausnahme gedacht sind, nicht zur Regel und zum Dauerzustand werden. De facto sind wir bereits in einer Notstandssituation. Wir fühlen uns bedroht, der Staat verspricht Sicherheit – und gewinnt dabei Macht über uns: So wie Thomas Hobbes das in seinem „Leviathan“ bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts beschrieben hat.

Das ist überhaupt die Gefahr, die in dieser rasanten Dynamik von Tag zu Tag deutlicher wird: Die Schäden der Maßnahmen gegen das Virus könnten am Ende größer sein als der Primärschaden. Einen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nicht.

Die Fragen stellte Dennis Yücel

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Englische Übersetzungen: