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Intensiver Austausch: Der arabischsprachige Raum war über Jahrhunderte hinweg zentral für jüdische Kultur, Religion und Philosophie

Der Historiker Avner Ofrath erforscht an der Freien Universität Berlin die arabisch-jüdische Ideengeschichte vor dem Zeitalter des Nationalismus

25.04.2024

Die Große Synagoge „Rabbi Bloch“ war für viele Jahre die Hauptsynagoge der jüdischen Gemeinde Algeriens.

Die Große Synagoge „Rabbi Bloch“ war für viele Jahre die Hauptsynagoge der jüdischen Gemeinde Algeriens.
Bildquelle: Look and Learn / Elgar Collection / Bridgeman Images

Viele Jahrhunderte lang lebten Jüdinnen und Juden in weiten Teilen der arabischen Welt. Bis in die 1950er Jahre hinein erstreckte sich ihr Siedlungsgebiet über ganz Nordafrika und den Nahen Osten. Viele von ihnen waren im 15. und 16. Jahrhundert aus Europa vertrieben worden. Andere lebten dort bereits seit noch längerer Zeit. Erst mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 und der Unabhängigkeit der arabischen Staaten in den 1940er- bis 60er Jahren verließ der Großteil der seither auch als „Mizrahim“ bezeichneten arabischen Juden die Region.

„In Städten wie Marrakesch, Algier, Tunis, Kairo, Aleppo, oder Bagdad gab es florierende jüdische Gemeinden,“ sagt Avner Ofrath. „Hunderttausende Jüdinnen und Juden lebten dort in weitestgehend friedlicher Koexistenz mit den muslimischen Mehrheitsgesellschaften. Erst mit dem Aufkommen nationaler Bewegungen in der Zwischenkriegszeit häuften sich die Gewaltausbrüche.“

Der Historiker erforscht am Friedrich-Meinecke-Institut des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität die Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Muslimen. In seinem aktuellen, von der Alfred Landecker Stiftung finanzierten Forschungsprojekt richtet Avner Ofrath den Blick besonders auf das 19. Jahrhundert. „Damals wurde die Region vor allem durch zwei Prozesse rasant verändert“, sagt er. „Zum einen durch die europäische koloniale Expansion, zum anderen durch weitreichende innenpolitische Reformen des Osmanischen Reichs.“

Die etablierte Ordnung, die sich zwischen jüdischen und muslimischen Menschen in der Region bewährt hatte, sei durch diese politischen Verschiebungen auf ganz unterschiedliche Weise aufgerüttelt worden. Etwa durch verschiedene Nationalismen, die sich im Zuge der Kolonisierung Nordafrikas und des Nahen Osten formiert hätten.

Algerien

„In Algerien etwa, das von 1830 an von Frankreich kolonisiert wurde, wurde die Gesellschaft durch die Kolonialmacht gespalten“, sagt Avner Ofrath. „Anders als die muslimische Mehrheitsgesellschaft wurde die jüdische Minderheit im kolonialen System mit vollen politischen Rechten ausgestattet.“ Während die muslimische Bevölkerung politisch ausgegrenzt wurde, hätten sich beachtliche Teile der jüdischen Bevölkerung immer mehr mit französischer Politik und Kultur identifiziert. 1870 wurde die jüdische Minderheit kollektiv mit der französischen Staatsbürgerschaft ausgestattet.

Irak

Ganz anders stellte sich die Situation hingegen im Irak dar. „In Bagdad gab es eine große, wohlhabende jüdische Gemeinde“, sagt Avner Ofrath. „Es gab ein jüdisches Bürgertum, das sich dem Irak zugehörig fühlte.“ Als Anfang des 20. Jahrhunderts eine irakische Nationalbewegung entstand, hätten sich auch viele Jüdinnen und Juden daran beteiligt. „Es gab einen gesellschaftsübergreifenden irakischen Nationalismus,“ sagt der Historiker. „In der Literatur und Presse der Zeit wurde er auch von dem jüdischen Teil der Bevölkerung auf Arabisch gepflegt.“

Palästina, Marokko, Jemen, Syrien

Im damaligen Palästina hingegen seien zwei parallel verlaufende Nationalismen entstanden. Auf der einen Seite die europäisch geprägte zionistische Bewegung, die auf die Errichtung eines jüdischen Staates zielte. Auf der anderen Seite die palästinensisch-arabische Bewegung, die einen eigenen, arabischen Staat einforderte. Der eskalierende Konflikt in Palästina hallte in der ganzen arabischen Welt nach. In den 1930er und 1940er Jahren kam es zu blutigen Ausschreitungen zwischen Juden und Muslimen und Massakern an jüdischen Gemeinden von Marokko im Westen bis in den Irak im Osten, von Jemen im Süden bis Syrien im Norden.

Der Historiker Avner Ofrath erforscht die Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Muslimen.

Der Historiker Avner Ofrath erforscht die Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Muslimen.
Bildquelle: privat

Veränderungen im Osmanischen Reich

Eine große Rolle für das veränderte Selbstverständnis von Juden und Muslimen in der Region spielten Avner Ofrath zufolge jedoch nicht nur die europäischen Ideen, die über die koloniale Expansion in den Raum gelangten. In ähnlicher Weise veränderte sich im 19. Jahrhundert auch das Osmanische Reich, das damals weite Teile der arabischen Welt kontrollierte.

„Das Osmanische Reich zeichnete sich immer schon durch eine relative Autonomie von religiösen und ethnischen Minderheiten aus“, sagt Avner Ofrath. „In der öffentlichen Sphäre hingegen unterlagen nicht-muslimische Bevölkerungsgruppen wie Armenier oder Juden besonderen Regeln, die ihre Teilhabe am öffentlichen Leben stark regulierten und teilweise einschränkten.“

Dies habe sich jedoch mit weitreichenden Reformen in den 1830er und 1860er Jahren verändert. „Das Osmanische Reich ordnete sich damals innenpolitisch grundlegend neu“, sagt der Historiker. „Es war ausgerichtet auf das Prinzip der Gleichheit aller Untertanen ungeachtet religiöser Zugehörigkeit.“

Im gesamten Osmanischen Reich und den angrenzenden Staaten habe dies zu einem neuen politischen Diskurs um Zugehörigkeit, Teilhabe und Identität geführt. „Jüdinnen und Juden der Region konnten ihr kollektives Leben nun freier gestalten und sich am politischen und wirtschaftlichen Leben viel stärker beteiligen“, sagt Avner Ofrath. „Damit einher gingen neue Fragen über die Rolle von Religion und eigener kollektiver Identität zwischen privater und öffentlicher Sphäre.“

Kaum untersuchte Schriften

In seinem Forschungsprojekt untersucht der Historiker diese vielfältigen Verschiebungen vor allem anhand politischer Schriften, die jüdische Journalisten, Autoren und Gelehrte der Region im 19. Jahrhundert verfassten. „Von 1860 bis in die 1920er Jahre kam es zu einer Blütephase des judäo-arabischen politischen Diskurses“, sagt Avner Ofrath. „Bislang hat jedoch kaum jemand diese Texte untersucht.“

Mit „Judäo-Arabisch“ werden die verschiedenen arabischen Dialekte bezeichnet, die von Jüdinnen und Juden in den unterschiedlichen Regionen des Nahen Ostens und Nordafrikas gesprochen und geschrieben wurden. Geschrieben wurden sie jedoch in hebräischer Schrift. „Judäo-arabische Texte hatten vor den 1860er Jahren vor allem eine liturgische Funktion“, sagt Avner Ofrath. Es habe sich etwa um Gebete oder Auszüge des Tanach, der hebräischen Bibel gehandelt, die aus dem Hebräischen in die Alltagssprache der Menschen übersetzt worden seien.

Doch dann sei ein tiefgreifender Wandel eingetreten: „Es entstand ein judäo-arabischer Diskursraum, in dem über Ideen wie Aufklärung, Staatsbürgerschaft oder Wahlrecht debattiert wurde“, sagt der Wissenschaftler. „Ich untersuche, wie die Menschen diese Konzepte in ihre eigene Sprache übersetzten und in den lokalen politischen Diskurs einbrachten.“

Veränderungen im Osmanischen Reich

In der Forschungslandschaft dominierten bislang oftmals binäre Paradigmen, sagt Avner Ofrath. Lange Zeit sei das Bild eines islamischen Despotismus gezeichnet worden, in dem Jüdinnen und Juden der Region immer unterdrückt worden seien ohne Dialog und Austausch zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen. Dann sei, gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten, ein geradezu entgegengesetztes Bild entstanden: die Vorstellung eines harmonischen jüdischen Lebens in der arabischen Welt.

Mit seiner Forschung zur judäo-arabischen politischen Literatur will Avner Ofrath ein differenziertes Bild zeichnen. „Mir geht es vor allem darum, die spezifischen Wahrnehmungen und Vorstellungen arabisch-jüdischer Autoren im 19. Jahrhundert herauszuarbeiten“, sagt er. „Und das ist ein teils widersprüchliches Bild voller Gemeinsamkeiten, Austausch und Bereicherung – aber eben auch von Grenzen der Kommunikation und von politischen Konflikten.“