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Zur Debatte über eine Antisemitismusdefinition

Die Diversität in der wissenschaftlichen Debatte ernst nehmen: Der Kulturwissenschaftler und Soziologe Peter Ullrich hielt einen Vortrag an der Freien Universität Berlin

17.05.2024

Prof. Dr. Martin Lücke (l.), Geschichtsdidaktiker an der Freien Universität Berlin, und Dr. Peter Ullrich, Kulturwissenschaftler und Soziologe an der TU Berlin.

Prof. Dr. Martin Lücke (l.), Geschichtsdidaktiker an der Freien Universität Berlin, und Dr. Peter Ullrich, Kulturwissenschaftler und Soziologe an der TU Berlin.
Bildquelle: Jonas Huggins

Laut Duden ist es nicht schwer: Antisemitismus ist Abneigung oder Feindschaft gegen das Judentum. Wenn es aber genauer sein soll, wird es kompliziert: Wie eine allgemeingültige und detaillierte Antisemitismusdefinition lauten sollte und ob dies überhaupt möglich ist, ist umstritten. Auch in der Wissenschaft gibt es eine Vielzahl an Positionen dazu, wo Antisemitismus anfängt, wo er aufhört und wie sich das feststellen lässt.

Einen Einblick in diese Debatten gab kürzlich Peter Ullrich in seinem öffentlichen Vortrag „Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft“ im Rahmen der Vortragsreihe „Antisemitismus als Thema in Geschichtswissenschaft, Geschichtsdidaktik und Public History“ an der Freien Universität Berlin.

Peter Ullrich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Technik und Gesellschaft an der Technischen Universität Berlin (TU) und Fellow am dort angesiedelten Zentrum für Antisemitismusforschung. Der doppelt promovierte Kulturwissenschaftler und Soziologe hat seine erste Dissertation im Jahr 2007 an der Freien Universität Berlin über die Haltung der politischen Linken zum Nahostkonflikt geschrieben. In den vergangenen Jahren hat er in einem siebenköpfigen Team des TU-Zentrums für Antisemitismusforschung an einem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanzierten Projekt über den Antisemitismusbegriff gearbeitet.

Aus diesem Projekt ist eine kurze Broschüre sowie ein 315 Seiten starkes Handbuch entstanden. Der Band behandelt Begriffe wie Erlösungsantisemitismus oder Neuer Antisemitismus, spannt verschiedene Problemfelder auf und stellt die Positionen wichtiger Persönlichkeiten in der Debatte dar.

In seinem Vortrag stellte Peter Ullrich einige wichtige Erkenntnisse vor, die aus dem Projekt hervorgegangen sind, und diskutierte diese anschließend mit Martin Lücke, Professor für die Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin, und dem Publikum.

„Wenn man Antisemitismus auf eine bestimmte Art und Weise verwendet, auch wenn man es nicht explizit tut, trifft man Entscheidungen. Und diese Entscheidungen haben Folgen“, sagte Peter Ullrich.

Eine dieser Entscheidungen sei der Zeithorizont, in dem Antisemitismus betrachtet wird. Während die einen bis ins altägyptische Alexandria von vor 2500 Jahren zurückgingen, betrachteten andere Antisemitismus als modernes Phänomen mit nur 150-jähriger Geschichte. Wieder andere sähen in den spätmittelalterlichen antijüdischen Legenden – etwa der Brunnenvergiftung – die Genese von Antisemitismus. „Da liegen Welten zwischen“, sagte Ullrich. Doch für jede dieser Grenzziehungen, zu welchem Zeitpunkt die Geschichte des Antisemitismus beginnt, ließen sich sachliche Gründe vorbringen.

Eine andere Frage, die in der Wissenschaft auch diskutiert wird: Wie verhalten sich Antisemitismus und Rassismus zueinander – lässt sich Antisemitismus als Rassismus gegen Jüdinnen und Juden beschreiben? Dafür spräche, dass beide Phänomene von Essentialisierung, Naturalisierung und Abwertung gekennzeichnet sind, erläuterte Peter Ullrich. Auch sei die Geschichte des Rassismus mit der des Antisemitismus eng verflochten.

Andere sähen im Antisemitismus aber ein vom Rassismus wesentlich zu unterscheidendes Phänomen. Vertreterinnen und Vertreter dieser Position wiesen auf den weltanschaulichen Charakter von Antisemitismus hin: eine Verschwörungsideologie, in der Jüdinnen und Juden über verborgenes Wirken im Hintergrund als übermächtig dargestellt werden – und nicht als machtlos und minderwertig konstruiert würden, wie das für den Rassismus typisch sei.

Eine einheitliche Definition zu finden, sei schon deshalb schwierig, weil sie für ganz unterschiedliche Zwecke gebraucht wird, argumentierte Ullrich. Eine Definition für alle Lebenslagen zu finden, sei deshalb zum Scheitern verurteilt, insbesondere in Schule und Bildung: Denn bei der Arbeit mit Jugendlichen müsse der Begriff anderen Anforderungen genügen als bei der Erwachsenenbildung oder der Ausbildung in der Polizei.

Ein weiteres Problem ist die sogenannte Spezifität: Wie verlässlich muss mithilfe der Definition Antisemitismus von ähnlichen Phänomenen unterschieden werden können? Das wird wichtig, wenn die Definition zur Beurteilung dient, welche Äußerungen etwa zum Nahostkonflikt legitime Kritik und welche antisemitisch sind. Außerdem: Muss eine antisemitische Absicht vorliegen, um von Antisemitismus reden zu können?

Während die Wissenschaft um das richtige Antisemitismusverständnis ringt, ist in der Öffentlichkeit ein zunehmend polarisierter Streit um Definitionen entbrannt. Seit 2016 gewinnt die sogenannte Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) an Bedeutung. Bündig formuliert und mit Beispielen versehen, ist die Arbeitsdefinition von zahlreichen Institutionen und Regierungen – darunter die Bundesregierung – übernommen worden, hat aber auch Kritik hervorgerufen. Mit der Jerusalem Declaration, an der auch Peter Ullrich mitgearbeitet hat, und dem Nexus Document haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwei Konkurrenzdefinitionen vorgeschlagen.

„Es gibt viele Gründe, um zu dem Schluss zu kommen, dass ein allgemeinverbindlicher Antisemitismusbegriff ein uneinlösbares Ideal ist“, sagte Ullrich, auch wenn es nachvollziehbar sei, an dem Ideal festzuhalten. Für einen solch abstrakten Begriff sei es nicht verwunderlich, wenn man sich mit einer einfachen Formel schwertue.

Doch statt zu polarisieren und „einzelne Definitionen zu sakralisieren“, sollte die Diversität in der wissenschaftlichen Debatte ernstgenommen werden, empfahl Ullrich. So entstehe ein komplexes Gesamtbild, das eine produktive Debatte ermögliche.

Weitere Informationen

Schwerpunkt Naher Osten

Weitere Informationen: Beratungsangebote, Veranstaltungen und Kommunikation der Freien Universität zum Nahostkonflikt

Zur Region Naher Osten arbeiten, forschen und lehren an der Freien Universität Berlin Wissenschaftler*innen aus zahlreichen Disziplinen und Instituten. Beteiligt ist der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften mit den Fächern Arabistik, Semitistik, Judaistik, Islamwissenschaft, Iranistik, Turkologie sowie der Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften mit dem Arbeitsbereich Friedens- und Konfliktforschung, der Arbeitsstelle Politik im Maghreb, Mashreq und Golf, dem INTERACT Zentrum und der Arbeitsstelle Internationale Kommunikation

Die Institute und Arbeitsbereiche sind eng vernetzt; Studierende und Promovierende profitieren – etwa im Masterstudiengang „Interdisciplinary Studies of the Middle East“ und der Graduiertenschule „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“ – von der Interdisziplinarität und Fächervielfalt, die die geografische Region Naher Osten spiegeln.